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TV-TIPPS: BESONDERE FILME IM MAI / JUNI 2023

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{DAS GESICHT UND DIE STIMME DER SEELE}

​​​​​​​NACH INNEN

»Die Menschen werden gezwungen sein, auf ihre natürlichen Kräfte zurückzugreifen. Mit den Augen, die in ihnen sind, zu sehen und mit der Stimme, die sie in sich hören, zu sprechen. Sie werden den Weg zurück zu Gott suchen. Nicht zur Religion, und was wir üblicherweise darunter verstehen. Nein. Zurück zu unserem Ursprung, als wir noch nichts von Gott zu wissen glaubten.

       Herzen werden erweichen oder verhärten. Der Kampf zwischen den Sanften und den Harten wird ein Kampf zwischen den starken und den schwachen Kräften sein. Zwischen den Liebenden und den Zerstörenden, den Hoffenden und den Resignierenden.«           

(Sanela Tadić | aus: »Der Prophet«, Januar 2020)​​​​​​​​​


​​​​​​​LIEBEN

»Henry hat sich selbst nie gemocht, geliebt schon gar nicht. Er weiss nicht mal warum. Es ist vielleicht bloss die Tatsache, dass er – Henry – es ist, den er mögen, sogar lieben soll. Diesen Henry, der immer da ist, den er kennt wie keinen anderen, und den er meidet wie keinen anderen. Er will ihn nicht so gut kennen, weil er – Henry – es ist, und nie ein anderer. Es ist immer Henry, den er nie loswerden kann. Wäre es nicht leichter, wenn er ihn mögen, sogar lieben könnte? Niemand wird ihm je näher sein als Henry, von dem er sich niemals trennen kann. Alles und jeder kann ihn verlassen, er sich selbst nie.

        Und doch sehnt er sich danach: nach jemandem, der ihn von ihm – Henry – trennt. Wenn er sich aber verliert, wie könnte er dann noch lieben? Wie könnte irgendjemand ihn lieben? Es gibt ihn ja dann nicht. Nein, so geht das nicht. Er muss sich selbst wie jemand anderen lieben, um sich jemand anderem schenken zu können. Das ist das weise Gesetz der Natur. Ohne Henry gibt es auch niemand anderen. Nicht so, wie er es sich wünscht. Was für ein Fluch, denkt er wütend und weiss, dass es ein Segen ist, den er doch – dieser lästige, ungeliebte Henry – nicht verdienen kann.«

(Sanela Tadić | aus: »Henry liebt« | aktuelle Kurzgeschichte; demnächst)​​​​​​​​​

​​​​​​​ZURÜCK INS HERZ

»Ihr ernster Blick war auf den Tisch gerichtet, als würde dort etwas geschehen, was nur sie wahrnahm. Ihre Gedanken verdichteten sich zu einer Erinnerung, die stark und schwer verständlich für sie blieb. Es war kein Ereignis, dem man zuschauen konnte. Eigentlich nichts von Bedeutung meinte sie, und doch beschäftigte es sie zu einem völlig falschen Zeitpunkt.

       Sie erinnerte sich an das Ende ihrer Kindheit, die nicht wirklich zu Ende war. Noch war sie ja ein Kind und würde es noch eine Weile bleiben. Vielleicht länger als andere Kinder, auch wenn sie sich nicht so fühlte. Vor ein paar Jahren gab es einmal einen Augenblick, vielmehr einen Gedanken, den sie hatte und der sich später oft wiederholte. Immer zum falschen Zeitpunkt: Jetzt bin ich kein Kind mehr und ich darf nicht länger wie ein Kind fühlen. Es wäre schwer für sie gewesen, diesen Moment jemandem zu beschreiben. Sie verstand ihn selbst nicht, fühlte jedoch, dass er wichtig war.

       Wäre dieser Moment ein Märchen, dann wäre er für die Heldin in diesem Märchen jener schauerliche Augenblick, in dem geliebte Menschen sich in Hexen, Bestien und andere böse Gestalten verwandeln und der wunderschöne Ort, an dem sie lebt, zu einer dunklen und beunruhigenden Landschaft. Die Heldin muss alles mit neuen Augen sehen. Sie ist nicht nur von Engeln und Feen umgeben und die Welt ist kein Paradies. Sie wurde getäuscht oder hatte sich selbst getäuscht.

       Ein Kind hat nun mal Augen, die in einer starken Verbindung zum Herzen stehen. Inwendige Augen, die durchaus sehen, aber alles grösser und in einem viel helleren Licht. Anders. Besser. Es fühlt eigentlich mehr, als dass es sieht. Alles und jeder ist wundervoll. Bis ein einziger Moment das Herz von den Augen trennt.

       Später wird es diese Verbindung wiederfinden müssen. Zurück zur Unschuld finden. Erwachsenen fällt das schwer. Wenn sie die Welt erstmal kennen, sehnen sie sich oft nach dieser Verbindung zurück, die ihnen als Kindern selbstverständlich war. Sie suchen das Wundervolle und folgen alle dieser Sehnsucht auf verschiedene Weise.

       Und ihr machte es Angst, dass sie sich nach etwas sehnte, das irgendwie nicht normal sein konnte – dass es selbstverständlich sein sollte.«

(Sanela Tadić | aus: »Meisterschaft der Wunder« | Erzählung, 2014)



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Ich hoffe, dass mir mein anspruchvolles Streben gelingt und bedanke mich bei meinen Leserinnen und Lesern für die Zeit, Energie und Aufmerksamkeit.


Herzlichst,

Sanela


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